Vermutungen zur Fotografie 2045

von Christian Nowak
Bei Geburt der Prager Fotoschule Österreich war nicht absehbar, wie sehr sich die Technologie als Grundlage der Fotografie in knapp 25 Jahren ändern würde und welche Möglichkeiten der fotografischen Gestaltung, Publikation und Rezeption sich daraus ergeben: Heute sind Digitalkameras ausgereift. Handys als Kameras sind allgegenwärtig und machen jede/n zu einem fotografischen „Könner“, Photoshop hat die Dunkelkammer abgelöst. Das Internet ertrinkt in einer Bilderflut. Der ausgebildete Berufsfotograf ist eine aussterbende Spezies.

Wie wird fotografisches Leben in weiteren 25 Jahren aussehen? Wir wagen eine Prognose anhand erkennbarer Trends, im Wissen, dass unsere Fantasie nicht ausreicht, die Paradigmen verschiebenden Neuerungen vorherzusehen, die über uns hinwegrollen werden, unerwartet und gewaltig wie Tsunamiwellen.

Scan as you can!

Scan as you can!

Die Abbildung eines natürlichen Sachverhalts auf ein Bildmedium unterliegt technischen Begrenzungen: Jeweils nur Teilaspekte des fotografierten Objekts werden im Foto erfasst. Der Stand der Technik arbeitet sich an dieser systeminhärenten Vergröberung ab, im Bemühen, die erfassten Informationen multidimensional zu erweitern und sich so dem Original möglichst anzunähern. Wir erkennen das in verstärkter Verwendung der 360°-x-180°-Fotografie, Verbreiterung der aufgezeichneten Lichtfrequenzspektren, höheren Bildauflösung durch Optik- und Sensorphysik, zunehmender räumlicher Erfassung (Stereo, LIDAR, Holografie) und perspektivischen Erweiterungen (Drohnen, Satelliten). Die Detaildichte der Aufnahmesysteme (Optik, Sensor) nimmt ständig zu. Zusehends werden Momentbeobachtungen durch Aufnahme zeitlicher Verläufe ersetzt (Live-View, Video). Die Dynamik dieses Trends zur umfassenden Datenerfassung verstärkt sich weiter.
2045: Ergebnis ist die weltumspannende, dichte, alle Frequenzen und Dimensionen umfassende, nanometrisch genaue digitale Erfassung physikalischer Gegebenheiten in zeitlicher Kontinuität, die persistente Speicherung dieser Daten über die Welt, mit (theoretisch) ortsungebundenem Zugriff für jeden. Der heute von Menschen absichtsvoll als punktuelles Ereignis vollzogene Akt des Fotografierens wird großflächig ersetzt durch ein automatisiertes permanentes Scannen der Welt.

The ultimate selfie

The ultimate selfie

So wie heute Prozessoren und passive Schaltkreise in viele Produkte eingewoben sind, werden nun Sensoren in alle Objekte, beweglich und unbeweglich, eingebracht. Kein Mensch, der nicht beständig mehrere Aufnahmeapparaturen mit sich führt, in Kleidungsstücken, als Kontaktlinsen, auch als Implantat. Gegenstände des täglichen Bedarfs werden zu Datensammlern. Ein um Augen, Ohren, Tast- und Geruchssinn erweitertes Internet of Things entsteht. Fahrzeuge, Handelswaren, Pflanzen und Weidevieh, alle tragen Sensoren. Miniaturisierte, autonom bewegliche Sensorikroboter agieren verstreut im Gelände, zur Umwelt- und Wetterbeobachtung, aber auch als Wachorgane. Dieses sensorische Ökosystem wird bei Bedarf durch Spezialaufnahmegeräte ergänzt, die von Eliten, dem Militär, der Politik und der Medienindustrie entsandt werden, um aus Informationsvorsprung Kapital zu schlagen.
2045: Die Kamera als aufnahmetechnisch beschränktes Einzelgerät in der Hand eines Fotografen ist längst ersetzt durch den Datenstrom, den die vernetzten Sensoren in Permanenz erzeugen. Die Welt als ein einziges integriertes Aufnahmegerät erzeugt in Selbstbeobachtung ein Modell ihrer eigenen Wirklichkeit. Die Intelligenz des Apparats zeigt sich u. a. darin, dass das Modell die Beobachtung der Welt selbst plant und rekursiv durchführt. Augen und Tentakel des Modells wachsen in die Wirklichkeit der Welt hinein und werden dort selbst Gegenstand der eigenen Beobachtung.

Datagrafie

Datagrafie

Datagrafie

Datagrafie

Datagrafie

Die Kamera als Apparat bewusster fotografischer Gestaltung wird obsolet. Der permanente Datenstrom macht es möglich, fotografische Arbeiten erst nachträglich auf Basis der Datenfülle durchzuführen. Die Anwesenheit des Fotografen am Ort des Geschehens ist nicht länger notwendig. Am Computer geht es, anders als heute, nicht lediglich um die bestmögliche Ausarbeitung eines bereits bei der Aufnahme vorgestalteten Bildes: Vielmehr besteht der „fotografische Akt“ nun in einer Auswahl und Transformation eines Teilausschnittes der Daten des Weltmodells zu einem „Bild“.

2045: Den heutigen Kameras (Hardware) entsprechen nun Programme (Software), mit denen Fotografen die wir Datagrafen nennen durch Selektion präsentable Ausschnitte aus dem allumfassenden Welt-Datenmodell destillieren und rekombinieren. Der Datagraf erstellt keine Bilder der Weltwirklichkeit, er erzeugt Bilder des universellen Selfies, das die Welt von sich selbst laufend erstellt.

Das Weltmodell tritt zwischen die physikalische Welt und den Datagrafen. Das Tätigkeitsfeld des Datagrafen ist nicht der Kriegsschauplatz, die Hochzeit oder das Studio, sondern ein virtueller Raum. Aus Kamera, Objektiv und Belichtungsmesser wurden programmierte und programmierbare Werkzeuge. Routineaufträge sind ohnehin an Software delegiert, intelligente Algorithmen, die absichtsgesteuert beständig das holosensorische Modell nach passenden „Bildern“ durchforsten.

In der Datagrafie verschmelzen „echte“ Sensordaten der physischen Welt ununterscheidbar mit künstlich erzeugten Pseudodaten. So wird das Abbild der Welt einerseits laufend genauer, weil bessere Sensordaten vorliegen, gleichzeitig aber rückt das Bild in größere Distanz zum physikalischen Sachverhalt. Simulationen möglicher alternativer Welten ergänzen den Datenbestand laufend, durch virtuelles Terraforming wächst das Weltmodell über die Welt hinaus und umschließt sie.

Datagramme

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Ein fotografisch neuer Aspekt der Bilddestillation aus dem Weltmodell liegt darin, dass nun in einem „Bild“ Sachverhalte, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten oder an unterschiedlichen Orten in mehreren Perspektiven bestanden hatten, kombinierbar werden. Die Datagrafie erzeugt aus dieser Vielfalt ein virtuelles, sich laufend rekombinierendes Raum-Zeit-Mosaik. Datagramme, wie diese Erzeugnisse heißen, sind ihrer Natur nach Videoströmen ähnlich, jedoch nicht auf die primitiv gerasterte vorfabrizierte Zweidimensionalität heutiger Videostreams beschränkt.
2045: Datagramme sind virtuelle Konstrukte, bestehend aus Code und Parametern. Bei ihrer Ausführung durch Echtzeitrendering entstehen „betretbare“ Holobilder, die sich in der Bewegung durch Raum, Zeit und Optionen erforschen lassen. Die fluiden Erzeugnisse reagieren in Echtzeit als interaktive, höchst aufgelöste, taktil, audiovisuell und olfaktorisch erfassbare Hologramme. Gelungene feature-reiche Datagramme reagieren bei jeder „Betrachtung“ in Abhängigkeit zu jeweils gültigen Situationsparametern neu und präsentieren sich unterschiedlichen Betrachtern auf verschiedene Art.
Die Rezeption von Datagrammen erfordert in Interaktion mit deren immersiver Darstellung durch hologrammatische Technik.Dabei löst sich die Polarität zwischen Betrachter und Werk auf, die Rezeption ist integraler Bestandteil des Werks, durch die dieses erst entsteht.

Die Interaktion, in der sich das ad hoc erzeugte Werk und die natürliche Welt samt ihren menschlichen Akteuren vermengen, wird durch die omnipräsente Sensorik erneut als Datenspur im Weltmodell aufgezeichnet. Dies erlaubt vielschichtige Rückkopplungen und Interaktionen mit parallel laufenden Datagrammen, während das Display läuft. Historische Wahrnehmungsakte stehen als Input für weiterführende datagrafische Aufführungen oder Erzeugnisse anderer Datagrafen zur Verfügung.

2045: Das datagrafische Werk, einmal veröffentlicht, ist anders als heute kein unveränderliches in sich ruhendes „ita est“, sondern beinhaltet eine unerschöpfliche Menge an Potenzialitäten („fieri potest“) dynamischer Weiterbearbeitung und Neuinterpretation. Die Datagrafie ermöglicht eine rekursive Kette von aufeinander aufbauenden Schaffensvorgängen im Widerspiel mit weiteren datenbereichernden Exekutionen des Erschaffenen ad infinitum. Durch diese Schaffenskette steigern sich Komplexität, Tiefe und Reichtum künstlerischer Erzeugnisse in exponentiellem Maßstab. Um die Stabilität der aufführbaren Holoszenarien trotz der immens wachsenden Komplexität der Datagramme zu gewährleisten, werden Generation, Verifikation und Validierung der Datagramme weitgehend den Maschinen überlassen.

Kommerzielle Datagrafie: Holoboards und Holotrips

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Kommerzielle Datagrafie gedeiht im Umfeld weltumspannend agierender Medienkonzerne und in der Werbung. Medienkonzerne sehen die gesammelten Scandaten des Weltmodells als ihr Eigentum an. Zugriff auf diese Daten zu gewähren, ist ihr Geschäftsmodell. Mithilfe der Datagrafen erzeugen sie bzw. werbende Unternehmen auf Einzelindividuen angepasste immersive Medieninhalte. Der Datagraf setzt dabei auf verallgemeinerten Templates auf und passt diese mittels Tuningparametern, Datenverweisen und eigenentwickelten, seine „künstlerische Handschrift“ tragenden Add-ons an. Die Fertigungskette wird End-to-End durch Automatismen unterstützt. Die Generationsarbeit erfolgt taylorisiert auf vielen Ebenen durch mehrere Datagrafen, vom groben Design für Kundengruppen bis zur maßgeschneiderten Endfertigung für den Einzelkunden. Man kann sich die Arbeit in etwa so vorstellen, wie sie heute in Renderingfarmen der Trickfilmindustrie stattfindet, nur, dass das Endergebnis kein fertiggestellter, für alle Zuschauer gleicher Streifen ist, sondern reaktive, agile, fluide, individualisiert reagierende Holoszenarien.
2045: Das Berufsbild des in den Wirtschaftsbetrieb eingebetteten Fotografen hat sich geändert. Der neue Datagraf ist ein Stubenhocker, verwachsen mit seinem digitalen Arbeitsplatz, ein Data Scientist, ein Virtuose der technischen Werkzeuge, die er nutzt, integriert und programmiert.
Die Gesamtheit der zurechtgeschneiderten kleinen Teilausschnitte der Datenwelt wird für die jeweilige Zielperson zu deren Kosmos. Sie lebt eingesperrt in die von den Medien definierten Grenzen seines Universums, das er für Welt und Wahrheit halten muss. Der Datagraf ist hier der Gefängniswärter.

Bildtechnisch entsteht, was Science-Fiction bereits vorweggenommen hat: Holoboards sprechen Individuen mit personalisierten Botschaften an, wobei diese Boards nicht mehr heutigen Plakatwänden entsprechen, sondern als überraumgroße, dreidimensionale holografische Dioramen „seamless“ in die reale Umgebung eingebettet sind. Der Rezipient bewegt sich ohne Unterbrechung durch seine ihn sensorisch und physisch umgebende Datensphäre. Dies gilt gleichermaßen für Beruf und Freizeit. Durch die weltweite Klimakrise reduziert sich die Mobilität der Massen in spätestens zehn Jahren massiv. Das Weltdatenmodell vereinfacht diesen Umbruch.

2045: Privatreisen sind durch datagrammatische Holotrips durch das Weltmodell ersetzt. Reisefotografie gibt es dort allerdings immer noch. Doch werden die Schnappschüsse des realen Tigers der Großwildsafaris von heute ersetzt durch vereinfachte Ausschnitte der erlebten virtuellen Simulation. Im virtuellen Modell sind die heute überfüllten Strände verlässlich einsam, die täglichen Sonnenuntergänge besser als jene im Prospekt, und die Ferienbekanntschaft ist mit einer unbändigen Leidenschaft und umwerfendem Duft ausgestattet. Dass sich die Weltsimulation und somit das Reisen inzwischen auf den Mond, den Mars und andere Planeten ausgedehnt hat, ist logisch. Die Sensorenherde ist längst auf dem Weg, das nähere Universum zu vermessen und zu vernetzen. 

Verlust der Kontrolle über das Private

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Eine aktuelle Debatte der Medienkritik erörtert, ob der in Datenpools von Firmennetzwerken, sozialen Plattformen und staatlichen Autoritäten auftretende Kontrollverlust es notwendig mache, der freien Proliferation von privaten Daten einen Riegel vorzuschieben. Unser Zukunftsbild trifft die Annahme, dass ein solcher Kampf um die Privatheit von Daten bereits verloren ist. Ständige Beobachtung, das dichter werdende Netz an Sensoren, zentrale Datenaggregation und -kumulierung usw. erscheinen unaufhaltbar, begünstigt durch wirtschaftliche und machtpolitische Interessen, gerechtfertigt mit der notwendigen Optimierung von Gesundheitsvorsorge, Bildung, Warenströmen, Geldflüssen und Gewaltprävention und exponentiell verstärkt durch rasanten technischen Fortschritt.
2045: Die Datenfülle ist öffentlich. Das Private entfällt, weil den Sensoren nichts privat bleibt. Einmal Erfasstes wird zum Weltwissen, ewig gespeichert und der Kontrolle des Einzelnen entzogen.
Es wäre blauäugig, anzunehmen, dass die Eigentümer der neuen Holowelt sich als Diener einer offenen, datendemokratischen Gesellschaft verstehen werden. Das Netz von Sen-sordaten fordert Missbrauch geradezu heraus. Dieser besteht in einer weitreichenden Zensur, d. h., der Zugriff auf die Datenfülle wird kontrolliert. Die einem Individuum präsentierten Daten sind perspektivisch individualisiert und manipulativ verzerrt. Die aus dem Weltmodell extrahierten Daten sind für den Rezipienten unüberprüfbar. Wer sich ihnen aussetzt, muss sie glauben. Die erlebten Daten sind seine Welt. Die datagrafische Software liegt ebenso in den Händen einiger weniger, wie die Algorithmen, die die datagrafischen Ergebnisse als dynamisches Holobild rendern. Für die Datagrafen ergibt sich in mehreren Dimensionen ein Verlust der Kontrolle über Arbeitsmittel, Arbeitsobjekte und Arbeitsergebnisse.
2045: Aus den primitiven Anfängen des Deep Fake abgeleitete Methoden erlauben weitreichende semantisch widerspruchsfreie Manipulationen der Daten. Ergebnis ist eine Vielweltensimulation in Echtzeit, mundgerecht und meinungslenkend aufbereitet für jeden Teilnehmer des Netzes. Trotz der erhöhten Genauigkeit und Breite der Datenscans, wie sie in der realen Welt stattfinden, ist der Wahrheitsgehalt eines Datagramms geringer als der eines Fotos von heute. Der Abstand zwischen Datagramm und Wirklichkeit wird durch die Ergänzung des Weltmodells mit künstlichen Szenarien beständig größer. Für den kommerziellen Datagrafen bringt diese Entwicklung enorme moralische Herausforderungen, denen sich nur die wenigsten Datagrafen stellen.

Maschinendämmerung

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2045: Datagrafische Arbeit erfolgt hybrid in Interaktion von Mensch und Algorithmen, in zunehmendem Maß auch schon autopoietisch durch das künstliche Intelligenz emergierende Weltmodell alleine. Die Grenze von Mensch und Algorithmus, von natürlicher und künstlicher Intelligenz wird brüchig. Das Weltmodell der Sensordaten stülpt sich über den mit dem Modell interagierenden Menschen und emulgiert ihn, ebenso, wie in der realen Welt durch Implantat-Technologie, Körperskelette, intelligente Kleidung und miniaturisierte Gadgets und Sensoren die Unterscheidung zwischen dem verschwindet, was Natur ist, und dem, was künstlich augmentiert wurde. Aus menschlichen Akteuren wird eine vom System (aus)genutzte Reagenz. Zwar ist der kommerzielle Datagraf 2045 ein anerkanntes Berufsbild, doch ist sein Niedergang durch maschinellen Ersatz bereits eingeläutet.

Freie Datagrafie

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Als Gegenbewegung zur Bevormundung durch die Medienkonzerne legen aufgeklärte wohlhabende Eliten Wert auf individualisierte Medienangebote, die ihren eigenen Einfluss auf Umfang, Inhalt und Anmutung der Datensphäre erhalten, die sie ständig umgibt. Da der Zugriff auf die Daten des Weltmodells in den Händen der Konzerne liegt, ist ein „Freikauf“ aus der kommerziell gefertigten Datenblase kostspielig und nur für wenige erschwinglich und durchsetzbar. Ebenso wird die Sicherung eines Mindestmaßes an Privatheit zu einem teuren Privileg. Die Erstellung eigener „freier“ Datagramme und das „Tarnen“ allzu privater Daten werden zum Statussymbol.
2045: „Freie“ Datengrafen sind darauf spezialisiert, diese Wünsche zu erfüllen. Solche Arbeit außerhalb des Schutzschirms der Konzerne ist anspruchsvoll, mit zahlreichen Herausforderungen: Werkzeuge müssen selbst entwickelt bzw. beschafft werden, die Komplexität und rasche Wandelbarkeit der Datensysteme erfordert umfängliches und tiefes technisches Verständnis, die Datenrecherche ist schwieriger und eine kundenspezifische „Bild“-Sprache muss entwickelt werden. Freie Datagrafen, die diesen Bedingungen genügen, haben Starstatus. Ihre Arbeit ist lukrativ. Diese Datagrafen schwingen sich selbst in die genannten Eliten auf.

Dark Photography

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Der sich verstärkende Zwang, sich in die manipulativ generierten, kommerziell optimierten, maßgeschneiderten Datenblasen der Holowelt einzuordnen, provoziert eine weitere Gegenbewegung in einem gesellschaftlichen Graubereich. Ähnlich wie das heutige Darknet organisiert, agieren der Tradition zugewandte dokumentarisch und künstlerisch orientierte Reporter und Künstler. Da sie sich sichtbar dem Mainstream der Medien entziehen und auch, weil sie technische Netzwerke verwenden, die sonst problematischen Randgruppen zugerechnet werden, haben die „Dunklen Fotographen“ den Geruch des Illegalen. Ihre oft als klassische Fotos erzeugten Werke unterscheiden sich von der glatten, reichen, aber flüchtigen Welt des virtuellen Mainstreams. Sie werden auf verschwiegenen Kanälen vertrieben, zu denen nur Insider Zugang haben.
2045: Die alte Fotografie hat als Gegenbewegung überlebt. Sie hat einen Markt mit dem Anstrich des faszinierenden Verbots. Ihre Strahlkraft erzeugt Aufmerksamkeit und Verlangen, die monetarisiert werden, den heutigen Vertriebsnetzen der pornografischen Industrie oder der Hehlerei nicht unähnlich.

(Er-)scanne dich selbst: fotografierende Massen

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2045: Abseits des kommerziellen und künstlerischen Anwendungsbereichs praktizieren die Massen weiterhin Fotografie in einer mit heute vergleichbaren Art: Breite Ausstattung der Menschenmassen mit automatisch arbeitender Sensorik und frei einsetzbaren Aufnahmegeräten sorgt für einen beständigen Datenstrom, der das Weltmodell aktuell hält und dessen historischen Verlauf lückenlos nachzeichnet, und wird durch die Medienkonzerne weiterhin gefördert.
Dabei geht es weniger um Daten über die physikalischen Gegebenheiten der Welt, die werden ohnehin vom Sensornetz erfasst. Vielmehr liefern die fotografierenden Massen wesentlich wertvollere Daten zu Bewegungs- und Aktivitätsprofilen, Blickinteressen und sozialen Interaktionen der Menschen selbst. Anders als der ärmliche Umfang heutiger Datenerfassung durch Instagram, Facebook und Co., der sich aus Bildern und vereinzelten Bild- x-Ton-Kombinationen zusammensetzt, umfassen die Daten nun das gesamte Spektrum an elektromagnetischen und Druckwellen, die chemischen und physikalischen Verhältnisse vor Ort und natürlich auch Gesundheits- , Bewegungs- und Erregungsdaten der Menschen. Der Datenstrom fließt ohne Unterbrechung, Umfang und Zeiten der Datensammlung sind zentral bestimmt, in Echtzeit überwacht und optimiert. Autonome, personenunabhängige Kleinstsensoren werden zusätzlich in Position gebracht, um multiperspektivisch deckende Datenerfassung zu erreichen.
2045: Die freie Bewegung von Privatpersonen ist 2045 noch notwendig, da Menschenmassen die besten Träger für verteilte Sensorik darstellen. Doch birgt die Bewegung im Gelände die Gefahr, dass ein wacher Beobachter eine Differenz zwischen der Welt seiner individualisierten Datagramme und physikalischen Gegebenheit erkennen könnte, den „Riss in der Matrix“. Das technologische Ökosystem wirkt dem entgegen: Die Bewegungsfreiheit ist unter Hinweis auf Klima-, Grenz- und Staatsschutz stark eingeschränkt, mit laufender Überwachung von Gebiets- und Tätigkeitsverletzungen. Das enge Geflecht holografischer Displays verstellt gezielt den Blick des Beobachters auf die „unverfälschte Natur“. Intelligente Algorithmen berechnen und beheben laufend Diskrepanzen zwischen Modell und Welt.

Data-Universe

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Bleibt noch die Frage, wie es mit der Prager Fotoschule weitergeht:
2045: Die PFSÖ feiert ihren 50er. Ihre Mission, das Sehen und das Gestalten zu lehren, ist weiterhin aufrecht. Mittel und soziale Einbettung fotografischer Arbeit haben sich grundlegend gewandelt, mit ihnen Lehrpläne, Lehrkörper und Unterrichtsmethoden. Für werdende freie Datagrafen ist die Schule in Eurasien die beste Adresse. Die Schule ist mit den Kunden der freien Datagrafie bestens vernetzt. Dass Abgänger der Schule das Handwerkszeug der kommerziellen Datagrafie „aus dem ff“ beherrschen, versteht sich von selbst. Man munkelt, dass Abgänger der Schule, die jetzt Data-Universe (= Datagrafic University of Eurasia) heißt, ein weltumspannendes Netzwerk an dunkler Fotografie betreiben, doch fehlen dafür klare Beweise.

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Christian Nowak zeigte schon in seiner Jugend kein Talent, die Zukunft vorherzusagen. Dieses Unvermögen hat sich über die Jahre weiter verstärkt. Das hat Christian den zweifelhaften Ruhm eingebracht, dass seine Vorhersagen als Basis für einen erfolgreichen Investmentfonds dienen. Der sogenannte „Anti-Nowak-Fonds (ANF)“ kauft, wenn Christian verkauft, und geht „short“, sobald Christian „long“ ist, und hat viele Anleger bereits so reich gemacht, dass sie sich ganze Hasselblad-Sammlungen leisten konnten. (Christian selbst lebt verarmt, nach eigenem Bekunden glücklich, unter den Brücken Wiens.)