Seite 95 - Birgit Reidinger - Diplomarbeit Sehen Sie aus wie Ihr Hund

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Seit vielen hundert Jahren haben die Menschen versucht, die Distanz
zum Tier mittels der Sprache zu überwinden. Laut den Legenden der
heiligen Männer predigte Franz von Assisi zu den Vögeln, Versuche
mit Schimpansen sollten zeigen, dass diese die Sprache der Menschen
erlernen können und Tierbesitzer sind sich sicher, eine sprachliche
Verständigung mit ihren Hausgefährten gefunden zu haben. Selbst
wenn ein Tier gelernt hat, die Laute der menschlichen Sprache zu
imitieren, kann es dennoch das Gemeinte des Ausdrucks nicht verste­
hen. Hunde lernen, dass menschliche Wörter eine besondere Bedeu­
tung für sie haben können. Sie lernen durch Assoziation oder durch
Versuch und Irrtum.
Obwohl Hunde das Gemeinte unserer Wörter an sich nicht verstehen
können, haben sie eine äußerst präzise Wahrnehmung kleinster Be­
wegungen und Signale. Sie beobachten ihre Menschen mit scharfen
Sinnen und nehmen minimale Veränderungen wahr. Der Tierpsycho­
loge Martin Rütter erzählte eine Geschichte, die diese Fähigkeit der
Hunde verdeutlicht. Sein Hund begleitet ihn täglich ins Büro. In einer
Lade seines Schreibtisches befinden sich neben Büroutensilien auch
Leckerlis für seinen Hund. Diese Lade betätigt er ungefähr hundert
Mal am Tag und nach einigen Stunden denkt er daran, seinem Hund
etwas davon zu geben und in genau diesem Moment weiß sein Hund
dies aus einem unerklärlichen Grund und sieht erwartend seiner Be­
lohnung entgegen. Hunde können also kleinste Veränderungen im
Verhalten ihrer Menschen deuten und wissen genau, ob sie zum Spa­
ziergang mit dürfen oder zu Hause bleiben müssen.
Jedes Hund-Herr-Gespann hat eine Kommunikationsform sehr feiner
gestischer Hinweise. Dies ist auch zwischen Menschen möglich. So
haben zum Beispiel Ehepaare gelernt, sich mit mikroskopisch kleinen
Zeichen perfekt zu verständigen, ohne dabei die Sprache zu benöti­
gen. Hunde können diese Mikroausdrücke bei ihrem Halter „lesen“
und so ziemlich genau seine Absichten deuten. Interessanterweise
können sie auch Richtungsangaben durch Zeigen verstehen und ab­
strakt in der Ferne fortsetzen. Der Wolf kann dies nicht und auch die
nächsten Verwandten des Menschen, die Schimpansen, können dies
nur in weit geringerem Ausmaß. Diese Fähigkeit der Hunde erweckt
scheinbar den Eindruck, dass eine genaue sprachliche Verständigung
wie unter Menschen, auch mit dem Hund möglich sei. Eine Gefahr, die
daraus resultiert ist, den Hund zu vermenschlichen.
Da der Hund seine Menschen so gut versteht, werden ihm auch allzu­
leicht menschliche Gefühls- und Denkmodelle untergeschoben. Hetzt
ein Hund zum Beispiel einem Hasen hinterher und kommt dann ge­
duckt zu seinem Halter zurück, wird dies mit „schlechtem Gewissen“
erklärt. Der Hund hat allerdings gelernt, die drohende Haltung seines
Herrn zu lesen und versucht durch eine beschwichtigende Geste, ei­
ner Strafe aus Angst zu entgehen. Ebenso neigen Menschen dazu
ihren Hunden „mangelnde Einsicht“ zu unterstellen und versuchen,
beim unfolgsamen Hund durch „gutes Zureden“ eine Verhaltensände­
rung zu erreichen.
Hunde haben Verhaltensweisen, die sie dem Menschen wesensver­
wandt erscheinen lassen und in vielen tausend Jahren haben sie ein
spezielles Sensorium im Umgang mit ihm erworben. Sie haben nicht
nur gelernt, mit dem Menschen gut auszukommen, sondern ihn auch
zu manipulieren. Die Nähe zwischen Mensch und Hund verhindert
konsequent, ihn als eine andere Art anzusehen und zu erkennen, dass
der Hund eine funktionierende Rangordnung braucht.
In einem Wolfsrudel wird der Leitwolf überschwänglich begrüßt, er
erwidert diese Begrüßung allerdings gleichgültig und mürrisch. Würde
er sich anders verhalten, wäre dies ein Zeichen der Schwäche und
sofort ein Grund für die anderen Mitglieder, seine Führung in Frage
zu stellen und ihn zu stürzen. Menschen pochen einerseits auf den
obersten Rangplatz, aus Hundesicht lassen sie allerdings alle Zeichen
vermissen, die diesen rechtfertigen. Hunde haben im Gegensatz zum
Wolf gelernt, die liebevolle Behandlung durch den Menschen nicht so­
fort als Schwäche auszulegen und begnügen sich zumeist damit, die
Hierarchieschwäche ihrer Besitzer gnadenlos zur Durchsetzung ihrer
eigenen Wünsche, auszunutzen. Dominante Hunde könnten allerdings
Zeichen der Schwäche nutzen, die Hierarchie infrage zu stellen.
Nicht durch vermenschlichende Verhätschelung und Überfütterung,
sondern durch konsequente Erziehung und artgerechte Beschäftigung
können Menschen eine hohe Qualität in ihrer Hund-Mensch-Beziehung
erreichen. Dazu gehört, dem Hund klare Strukturen vorzugeben,
wichtige Entscheidungen für die soziale Gemeinschaft zu treffen, sei­
ne Sprache zu verstehen und Ersatz für seine natürlichen Bedürfnisse,
welchen er in der menschlichen Gesellschaft nicht nachgehen kann,
zu schaffen.